Im amerikanischen Esquire gibt es eine Rubrik, in der alles steht, was man über das Leben wissen muss: „What I´ve learned“. Tim Burton erklärt darin, dass man Schimpansen so lange süß findet, bis man herausfindet, dass sie sich gegenseitig auffressen. Richard Branson sagt, dass sein Interesse am Leben darin besteht, sich riesige, scheinbar unüberwindbare Hürden zu setzen und sich dann daran zu machen, sie zu überspringen. Und Albert Einstein fand als in Würde ergrauter bzw. erweißter Mann, er habe ein Alter erreicht, in dem er auf die Aufforderung, sich mal Socken anzuziehen, antworten kann: eben nicht. Wer wissen will, was wirklich zählt, fragt einfach die Alten. Die, die es wissen müssen, weil sie das, was wir noch vor uns haben, schon erlebt haben. Das Magazin NEON hat die Idee adaptiert und die Rubrik „Lernen von den Alten“ getauft.
Lernen von den Alten – die Weisheit stammt aus einer Zeit, in der sich die Menschen am Lagerfeuer zusammensetzten, um ihren Großmüttern und Großvätern zuzuhören. Heute ist alles anders. Die Generation der Enkel macht auf Youtube ein Lagerfeuer und 50 000 Leute setzen sich dazu. Und wenn man etwas über das Leben im Netz lernen möchte, fragt man am besten die Jungen. So wie ich, der vor kurzem in der Hamburger Good School einen Talk moderiert hat unter anderem mit zwei Youtube-Stars aus Amsterdam, 18 und 21.
Die beiden Herren rechts in der Ecke des Graphic Recording von Malte von Tiesenhausen sind Kelvin Boerma und Peter de Harder. Sie haben vor einigen Jahren damit begonnen, als „Cinemates“ Youtube-Clips zu drehen. Nicht, weil sie dachten, sie könnten damit irgendwann Geld verdienen, sondern weil sie der niederländischen Provinz zwischen Tomaten und Tulpen entkommen wollten (Kelvins Vater ist tatsächlich Landwirt). Die Kamera wurde zu ihrem Fluchthelfer und sie sind weit gekommen damit. Heute haben sie acht Angestellte und bespielen mehrere Kanäle:
Die Geschichte von Peter und Kelvin ist aber nicht nur die einer erfolgreichen Flucht. Es ist auch die des Paradigmenwechsels, der sich im Netz vollzieht: In der analogen Welt waren es die Alten, die die Macht über die Kommunikationskanäle innehatten, und die Jungen mussten ihnen folgen. In der digitalen ist es umgekehrt: Die Jungen diktieren, wo, wann und wie kommuniziert wird, und wer mit ihnen im Gespräch bleiben möchte, heftet sich besser an ihre Fersen. Bei den Cinemates lässt sich das gut illustrieren an ihrem wichtigsten Kommunikationskanal: Snapchat.
Snapchat? denkt sich der 40-jährige Großvater. Mit anderen Worten: ich. Das ist doch die App, die nichts anderes kann als Bilder zu verschicken, die sich nach einer vorher festgelegten Zeit von selbst löschen. Eben nicht, antwortet der 18-jährige Einstein. Die Cinemates kommunizieren mit ihrer Community hauptsächlich über genau diese App. Auf Snapchat halten sie mit ihren Zuschauern Kontakt auf Augenhöhe. Sie posten mit dem im Oktober gelaunchten Feature Stories Fotos von ihren Reisen und machen auf neue Clips aufmerksam. Ihre Inhalte sind 24 Stunden abrufbar, bevor sie von selbst verschwinden. Was Snapchat für sie so attraktiv macht: Sie können ihre Inhalte unabhängig von Algorithmen und der Like- und Share-Ökonomie kuratieren, wie Facebook sie installiert hat. Das macht Snapchat zur idealen Mischung aus WhatsApp und Facebook: Man organisiert sich seine eigene Community, versorgt sie regelmäßig mit Updates und lockt sie damit auf die eigenen Plattformen.
Zu dieser Entwicklung passt, dass das Unternehmen vor zwei Wochen mit Discover ein neues Feature eingeführt hat. So einfach wie sich Bilder verschicken lassen (die danach verschwinden), können Inhalteanbieter (Kelvin und Peter würden bei einem so verstaubten Wort wahrscheinlich die Hände über ihrer verkehrt herum sitzenden Basecap zusammenschlagen) jetzt Inhalte veröffentlichen, ohne vorher ihre eigene Community aufbauen zu müssen. Zu den ersten Partnern gehören CNN, die Daily Mail oder Vice. Man findet auf ihren Kanälen genauso Glam-Fotos vom roten Teppich und Skydiving-Videos wie Nachrichten über neue Gräuel des IS, wie sie sonst als gedruckte Texte in der Zeitung stehen. Kuratiert und editiert von Redakteuren, die traditionelles journalistisches Handwerk in Einklang bringen damit, wie eine Zielgruppe kommuniziert, die bei zwölf, 13 beginnt und kurz vor Facebook aufhört. Denn Facebook, das ist für die Generation der Cinemates heute nur noch der Friedhof, auf dem die Grabsteine von Bloggern stehen, mit denen sie sich gegenseitig auf neue Blogeinträge hinweisen.
Wer heute wissen will, wie und er morgen erfolgreich kommunizieren kann, muss vor allem eines: denen zuhören, deren Leben aus wenig anderem besteht als digitaler Kommunikation. Wie kurz ist es her, dass Facebook als der wichtigste Social Media-Kanal bis ans Ende aller Tage galt? Bei Amerikanern zwischen 18 und 34 hat Snapchat Twitter bereits überholt. Und wenn man Kelvin und Peter zuhört, weiß man: Lange kann sich Facebook seines scheinbar uneinholbaren Vorsprungs nicht mehr sicher sein.
Zum Ende unseres Talks erzählten Kelvin und Peter, dass sie mit ihren Angestellten jetzt damit beginnen würden, auch Clips für ein älteres Publikum zu produzieren. Die Zielgruppe sei 50 plus, sagte Peter. Währenddessen zeigte Kelvin mit dem ausgestreckten Zeigefinger ins Publikum. Dort saßen Menschen ab Anfang 30. Wer alt ist und wer nicht, ist in diesen Tagen vor allem eines: eine Frage der Definition.
[…] “Lernen von den Jungen” geht es deshalb um Snapchat, und wie zwei Niederländer dieses zur Kommunikation mit ihren Fans nutzen. […]
#Briefing: Youtubes Konkurrenz,sichere Facebookseiten..., 12. Februar 2015Hi Kai!Sehr gut zusammengefasst! Ich habe mich nach der Good School hingesetzt und mich mit Snapchat befasst und unterstreiche deinen Text in jedem Punkt. Die Discovery Funktion finde ich allerdings blöd und passt eigentlich so gar nicht in die Philosophie von Snapchat, denn hier kann man sich mit Geld Gehör verschaffen – und das Betrifft in den meisten Fällen dann eher „die Großeltern“. Geld für Reichweite. Das Modell ist ja nicht neu – wäre ja auch seltsam, wenn Snapchat von diesem Kuchen nichts annehmen würde… Liebe Grüße aus Münster! Joana
Joana // odernichtoderdoch, 12. Februar 2015So ist das mit den Großeltern, Joana. Die wollen natürlich Teil der Party sein, auf der sich ihre Enkel tummeln. In genau diesem Feature offenbart sich wohl die Tatsache, dass die Alten versuchen, mit den Jungen im Gespräch zu bleiben, auch wenn das im Wortsinn seinen Preis hat.
Kai Schächtele, 12. Februar 2015Sehr anschaulich und vor allem richtig eingeordnet. Snapchat ist aber eigentlich gar nicht so crazy wie man (Alte Leute) denkt. Für mich ist es meist viel lustiger, meinen Kunden You now zu zeigen. Da kommt dann blankes entsetzen und Panik zum Vorschein 🙂 Ich bin auf jeden Fall sehr gespannt auf weitere Beiträge aus Eurer Reihe.
Jan Heinemann, 12. Februar 2015Danke für die Blumen, Jan. Und Dein YouNow-Beispiel kann ich gut nachvollziehen. Mir begegnen auch viele, die Twitch für einen Sprachfehler halten.
Kai Schächtele, 12. Februar 2015