Wo man es in diesen Tagen mit jedem „Ist das euer Ernst, Krautreporter?“-Eintrag beinahe bis auf die Titelseite des deutschsprachigen Internet schafft, weil ihn jeder teilt, der sich insgeheim „Hähä, habe ich doch gleich gesagt.“ denkt: Was für eine mutige Prognose, wirklich. Dass die Krautreporter aus dem Stand eine voll funktionstüchtige Redaktionsmaschine würden bauen können, war ungefähr so realistisch wie die Prognose, dass die deutsche Nationalmannschaft nach dem Finale von Rio jeden Gegner vom Platz husten würde. Jeder, der ein Magazin gelauncht hat, weiß, was das für ein langer, mühsamer Prozess ist. Das ist kein Hundert-Meter-Lauf, bei dem man mit der Veröffentlichung der ersten Ausgabe im Ziel wäre. Es ist ein Marathon, bei dem es nach dem ersten Kilometer erst richtig los geht. Und wahrscheinlich wäre es klüger gewesen (wenn auch unmöglich), sich nach der erfolgreichen Kampagne erst einmal für ein Jahr zurückzuziehen, um zu planen und Routinen und Abläufe zu entwickeln. Im Moment haben wir stattdessen einen unverstellten Blick in den Krautreporter-Maschinenraum, in dem noch lange nicht jedes Rädchen ins andere greift – es sind ja noch nicht einmal alle Rädchen verschraubt. Aber vieles läuft schon erstaunlich gut.
Natürlich sind die Krautreporter Opfer ihrer eigenen Großmäuligkeit, die sich vor allem darin manifestiert hat, der Online-Journalismus sei kaputt und sie würden das wieder hinkriegen. Zum einen war diese Großmäuligkeit aber nur von der eines anderen geborgt, der davon sprach, dass das Internet kaputt sei, ohne zu versprechen, er würde es reparieren. Und zum anderen hätte es ohne dieses übergroße Versprechen nie die Aufmerksamkeit gegeben, die das Einlösen dieses Versprechens erst möglich gemacht hat. Man sehe sich nur an, welche Erfahrungen Journalisten im Moment beim Versuch machen, Geld einzunehmen für journalistische Inhalte. Punktuell gelingt das schon ordentlich – allerdings immer nur im Vorfeld. Dann nämlich, wenn einzelne Protagonisten um Geld bitten für ein konkretes Vorhaben. Versuchen Journalisten, Journalismus kontinuierlich zu monetarisieren, machen sie keine besonders vielversprechenden Erfahrungen. Das IT-Portal Golem zum Beispiel hat vor kurzem eine Zwischenbilanz seines im vergangenen August gestarteten Abo-Modells „Golem pur“ gezogen. Knapp 3700 Euro kommen danach im Moment zusammen. Das reicht knapp für eine Redakteursstelle. Fazit: „Von den 900.000 Euro, die Krautreporter durch Crowdfunding eingenommen hat, sind wir aber sicherlich noch über 20 Jahre entfernt.“ Dadurch, dass die Krautreporter den Mund so voll genommen haben, waren sie in der Lage, ein im Wortsinne zukunftsweisendes Projekt auf den Weg zu bringen. Das hat keine Häme verdient, sondern Anerkennung, nach wie vor.
Die beiden zentralen Vorwürfe derer, die mit ihren 60 Euro Krautreporter möglich gemacht haben, lauten: Viele Autoren, mit denen Krautreporter seine sehr öffentlichkeitswirksame Kampagne gefahren hat, haben wenig oder nichts veröffentlicht und die Beiträge, die veröffentlicht wurden, irrlichtern an jeder Relevanz vorbei, Dieser Vorwurf ist zum einen richtig und zum anderen falsch. Richtig ist er, weil es tatsächlich erstaunlich ist, wie gering offenbar die Bereitschaft von einigen ist, entgegen der Ankündigung Teil dieses Experiments zu sein. Über die Gründe kann man als Außenstehender nur spekulieren. Aber warum fragt eigentlich niemand: „Ist das euer Ernst, ihr, die ihr im vergangenen Frühsommer gesagt habt, ihr wäret Krautreporter, davon aber jetzt offensichtlich wenig oder nichts mehr wissen wollt?“ Dann kämen wahrscheinlich erhellende Erkenntnisse zustande, die eine konstruktive Diskussion möglich machen. So aber stehen Alexander von Streit und Sebastian Esser allein im eisigen Wind und reagieren auf die massive Kritik.
Und falsch ist der Vorwurf, weil, wenn man mal genau hinsieht, merkt, dass Krautreporter sein Versprechen durchaus einlöst, eine andere Art von Online-Journalismus zu etablieren. Das lässt sich gut daran illustrieren, wie das Team auf die Anschläge von Paris reagiert hat. Am vorvergangenen Samstag, drei Tage nach dem Attentat auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“, schrieb die Krautreporterin Victoria Schneider auf Twitter:
Für @krautreporter auf dem Weg nach #Paris. Danke jetzt schon mal für's mitdenken – welche Hintergründe interessieren euch? #CharileHebdo
— Victoria Schneider (@vic_schneider) January 10, 2015
Sie folgte damit dem Beispiel des Reporters Jon Henley, der seine Recherchen für den Guardian regelmäßig auf diese Weise beginnt. In der sehr sehenswerten Dokumentation Journalismus von morgen – Die virtuelle Feder, die im vergangenen Sommer bei arte lief, erzählt er davon, wie er in seine Recherchereisen regelmäßig die Twitter-Follower einbindet: Was interessiert euch, habt ihr Ideen, habt ihr Kontakte? Genauso ging Victoria Schneider vor: Sie ließ sich in Paris sowohl von ihrer eigenen Nase leiten wie von dem, was ihr die Follower mit auf den Rechercheweg gaben. Parallel fragte die Redaktion in Berlin die Krautreporter-Mitglieder, die Franzosen sind, in Frankreich leben oder eine besondere Verbindung zum Land haben, nach ihren Eindrücken, Erfahrungen und Beobachtungen. Daraus entstanden mehrere lesenswerte Stücke von Victoria Schneider wie dieses über Muslime, die sich in Frankreich nicht zuhause fühlen. Außerdem trug die Redaktion eine Auswahl der Kollektivrecherche in einem eigenen Text zusammen, aus dem sich wiederum die deutsche Übersetzung eines von Luc Bessons ursprünglich auf Facebook veröffentlichten Briefes an einen fiktiven muslimischen Bruder ergab. Und zum Ende dieser Woche in Paris unterhielten sich Sebastian Esser und Victoria Schneider über ihre Eindrücke vor Ort via Skype (und veröffentlichten es auf Soundcloud).
Der kollaborative Journalismus, der Macher und Rezipienten auf Augenhöhe zusammenführt, wird unseren Beruf wesentlich prägen. Cordt Schnibben hat in seinem Spiegel-Blog-Eintrag zur Recherche der Hintergründe des MH17-Absturzes beschrieben, wie das Netz die Wahrheitsfindung verändert. Die Krautreporter marschieren in genau diese Richtung. Man kann das auf ihrer Seite gut nachvollziehen, es ist alles da. Man muss sich nur die Mühe machen, es zu sehen. Doch das machen offensichtlich nur wenige: Das Soundcloud-Gespräch hat bislang keine 30 Abrufe.
Seit zwei, drei Jahren vergehen kaum ein Mittagessen oder ein Feierabendbier, ohne dass sich Journalisten darüber beklagten, aus den Verlagen kämen keine oder zu wenige innovatorische Impulse. Und dann versuchen es ein paar Selbständige mit der Hybris und der Naivität, die man für eine solche Unternehmung braucht (mal eben knapp eine Million Euro einzusammeln, ohne zu wissen, worauf man sich da wirklich einlässt – das muss man sich erstmal trauen), einen innovatorischen Impuls zu setzen und kriegen jetzt beinahe jede Woche Knüppel zwischen die Beine geworfen. Beziehungsweise zwischen die Finger. Wie unter solchen Bedingungen die dringend notwendigen Innovationen über unsere Branche kommen sollen, soll bitte mal jemand derer erklären, die sich jetzt über die Performance der Krautreporter beschweren. Natürlich machen sie nicht alles richtig im Moment. Aber sie machen auch nicht alles falsch. Im Gegenteil.
Meine 60 Euro fürs zweite Jahr sind ihnen jedenfalls schon jetzt sicher.
[…] Die Krautreporter: Kritik der Kritiker von Kai Schächtele (Schreiben was wird) […]
Kraut und Rüben | The Brand New Times, 19. Januar 2015„Versuchen Journalisten, Journalismus kontinuierlich zu monetarisieren, machen sie keine besonders vielversprechenden Erfahrungen.“
Martin Storz, 19. Januar 2015Doch! Aber mit einem anderen Konzept: http://www.kontextwochenzeitung.de
Ich kenne die Zeitung, aber nicht en detail deren Finanzierungskonzept. Wenn man sich aber diesen Artikel durchliest, klingt mir das nicht danach, als sei da bereits ein funktionierendes Modell gefunden. Und hundert Euro für freie Autoren, wie es am Ende heißt, sind, um es neutral zu formulieren, auch nicht üppig.
Kai Schächtele, 19. Januar 2015„Hähä, habe ich doch gleich gesagt.“
Ich weiß ja nicht, ob das die richtige Beschreibung für die Unterstützer und jetzigen Kritiker ist. Es sind doch vielmehr diejenigen, die positives erwartet haben und jetzt enttäuscht sind, die sich kritisch äußern. Also nicht „Hähä, habe ich doch gleich gesagt“, sondern vielmehr „Schade, ich hatte viel erwartet und an euch geglaubt, leider bin ich bisher enttäuscht“.
Ich weiß auch nicht, ob diejenigen, die sich bisher kritisch äußerten eine „voll funktionstüchtige Redaktionsmaschine“ erwartet haben. Was ich z.B. erwartet habe, war eine Website, die funktioniert und benutzbar ist, also den angekündigten Journalismus „für das Internet“, der „auf Bildschirmen jeder Größe“ funktioniert.
Zurzeit erlebe ich eine Website, die auf langsamen PCs und mit Opera gar nicht funktioniert, die mit Tablets und Smartphones nicht zu bedienen ist und selbst unter besten Bedingungen keinen Spaß macht.
Das passt dann auch zum Thema „es ist alles da. Man muss sich nur die Mühe machen, es zu sehen.“ Mühe – das ist der richtige Begriff um das Lesen auf der Website zu beschreiben. Ich mühe mich gerne durch einen komplizierten, längeren Text. Ich mühe mich ungern beim Scrollen über eine Website, beim Suche nach einem älteren Text, usw. usf.
Achja: erwartet habe ich zudem, dass von den angekündigten) Autoren hin und wieder Texte erscheinen. Dass der Crowd-Gedanke daraus besteht, bei den Autoren nachzufragen, warum sie nichts schreiben ist mir jetzt neu – aber immerhin: innovativ ist es.
Max, 19. Januar 2015Viele Kritikpunkte bleiben aber hier (wie auch an anderen Orten) unerwähnt.
– Homepage funktioniert sehr schlecht, Artikel sind schwer auffindbar. Es sind so viele Punkte da, dass man gar nicht aufzählen mag.
– Es gibt keine Übersichtsseite, wo wer gerade irgendetwas „interaktives“ macht und man sich sonst informieren kann.
– Kommunikation
Dafür finde ich den Vorwurf „zu wenige Artikel gefallen mir“ auch eher schlecht. Die Frage ist doch, wie viel Prozent von Artikeln einer Seite müssen einem gefallen? Und was heißt gefallen?
Mi, 19. Januar 2015Ich finde die Artikel müssen gut und fundiert gemacht sein. Und Krautreporter könnte noch etwas die Menge an Artikeln erhöhen. Dann ist automatisch etwas mehr dabei.
@ Max und Mi: Mir ist der Zeitpunkt der Enttäuschung einfach zu früh. Gemessen an der extrem kurzen Planungsphase, die sich an die erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne anschloss, ist es kein Wunder, dass noch nicht alles rund läuft. Das bezieht sich auch auf die nachvollziehbare Kritik an der Website und ihrer Benutzerfreundlichkeit (bei mir funktioniert das Lesen auf dem Tablett). Mein Eindruck aber ist, dass der im Moment geäußerte Unmut sich mehr mit den grundsätzlichen Entscheidungen und Arbeiten des Teams beschäftigt, zum Teil tatsächlich in hämischer Weise, und das ist mir einfach zu oberflächlich. Gebt den Leuten Zeit, begleitet sie mit konstruktiver Kritik – davon haben am Ende alle was, Macher wie Leser. Das wäre dann der kollaborative Journalismus in umgekehrter Richtung. Und was den vermeintlich innovativen Gedanken angeht, mal die Autoren selbst zu fragen, warum sie bislang nicht mehr veröffentlicht haben: So schrecklich innovativ finde ich den nicht. Krautreporter ist kein klassisches Magazin, in dem der Chefredakteur seine Leute zwingen kann zu arbeiten. Es ist ein Kollektiv, das auf die Eigenverantwortung jedes einzelnen setzt. Und wahrscheinlich ergibt sich durch solche Fragen auch einfach ein anderes Bild als das, das sich in der Blogosphäre gerade verselbständigt.
Kai Schächtele, 19. Januar 2015[…] Meine 60 Euro fürs zweite Jahr sind ihnen jedenfalls schon jetzt sicher. Dieser Text erschien auch auf Schreiben-was-wird.de […]
Carta — Die Krautreporter: Kritik der Kritiker, 19. Januar 2015Journalisten meinen immer noch, sie seien unverzichtbar, oder? Cute.
M, 19. Januar 2015Anders rum wird ein Schuh daraus: Journalisten meinen immer noch, sie hätten der Gesellschaft etwas mitzuteilen. Und das Verrückte ist: haben sie, in Zusammenarbeit mit ihren Lesern. Das ist erstmal cute – und wichtig.
Kai Schächtele, 19. Januar 2015Mir ist die Diskussion mittlerweile eigentlich zu blöd; es ist ja eigentlich alles gesagt. Aber wenn dann immer wieder so Punkte aufkommen…
Zu früh? Nach knapp 3 Monaten? Wann soll man denn Kritik äußern? Wenn die 12 Monate rum sind? So bleibt immerhin noch genug Zeit, um zu reagieren. Ist doch nett von den Kritikern, oder?
„Gebt den Leuten Zeit, begleitet sie mit konstruktiver Kritik …“
Genau das wird doch gemacht: Es wurden vor dem Start Umfragen gemacht, es wurden Betatest durchgeführt, es wurde kommentiert und diskutiert. Dass das mittlerweile teilweise etwas unsachlich wird, liegt meiner Meinung nach daran, dass man (zumindest geht es mir so) nicht den Eindruck hat, dass sich etwas ändert bzw. verbessert und dass auf Kritik reagiert wird.
Eins noch dazu:
„Krautreporter ist kein klassisches Magazin, in dem der Chefredakteur seine Leute zwingen kann zu arbeiten. Es ist ein Kollektiv, das auf die Eigenverantwortung jedes einzelnen setzt.“
Anfangs wurde von einem monatlichen Honorar für die Journalisten gesprochen. Das klingt für mich sehr klassisch. Warum man davon abgerückt ist? Weiß ich nicht.
Max, 19. Januar 2015Über die vertragliche Geschichte weiß ich auch nichts genaues. Die Frage ist doch, was wurde angekündigt und was gibt es dort jetzt. Da ist (für mich) eine dicke Lücke, was Themen und Personen angeht. Jetzt zu sagen, dass „man niemanden zwingen kann“ ist doch irgendwie ein Witz. „Du hast gezahlt? Danke. Du willst Gegenleistung? Ach sorry. Ich kann da leider keinen zwingen.“ Ist doch absurd.
Ähm, waren es nicht die Krautreporter selber, die die Messlatte so hoch gelegt haben? Ich habe noch was mit „Neuer Journalismus“, „Retter des Journalismus“ usw. im Ohr.
Dani, 20. Januar 2015Wie geschrieben: Diese Welle, die jetzt notwendigerweise zu Ernüchterung bzw. Enttäuschung führt, war in meinen Augen notwendig, um das Projekt überhaupt erst möglich zu machen. Man hätte bestimmt nicht ganz so hart auf die Pauke der Erneuerung hauen müssen, aber es ist, wie es nun ist. Und mit einem neuen Verständnis von Journalismus experimentieren sie gerade.
Kai Schächtele, 20. Januar 2015[…] man die Krautreporter kritisieren, schon nach drei Monaten, oder eher nicht? Fällt mir schwer, dazu etwas belegbares zu sagen, denn die Wahrheit ist, ich lese inzwischen gar […]
Kritik der kritischen Krautkritik - Nico Brünjes, 21. Januar 2015[…] wird dieser Tod das ambitionierte Projekt ereilen. Ich halte es lieber mit Kai Schächtele, der schreibt: “Meine 60 Euro fürs zweite Jahr sind ihnen jedenfalls schon jetzt […]
Journalismus 2015: It's only the Beginning... - Lousy Pennies, 21. Januar 2015