In seinem bahnbrechenden Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ fasst der Psychologe Daniel Kahneman zusammen, was er in vier Jahrzehnten über das menschliche Gehirn gelernt hat. In unserem Kopf arbeiten zwei Denksysteme. System I ist schnell und kommt daher zu voreiligen Schlüssen, die einer Überprüfung oft nicht standhalten. Es ist das, was wir als unser Bauchgefühl bezeichnen. System II dagegen ist faul und arbeitet nur auf strikte Anweisung. Denn es muss sich die Mühe machen, Fakten einzusammeln und sie zu bewerten. Die Belohnung ist, dass es dadurch zu einem durchdachten Ergebnis gelangt. Nennen wir es Kopfvernunft.
Kopfvernunft und Bauchgefühl – es ist die Ehe zweier Partner, die ungefragt verheiratet wurden und sich jetzt miteinander arrangieren müssen. Meistens sagt das Bauchgefühl, wo es lang geht, und die Kopfvernunft muss, ohne dass wir uns dessen bewusst wären, hinterher räumen. Besser wäre es anders herum. Aber auch das Geheimnis einer guten Ehe besteht darin, dass man die Dinge nimmt, wie sie kommen, und das Beste daraus macht.
Vor einer Wochen erschien in der Süddeutschen Zeitung eine Übersicht von Bloggern. Erkenntnisinteresse des Artikels: Ist es möglich, vom Bloggen zu leben? Vorgestellt wurden fünf Blogger. Mama, zweimal Mode, Lifestyle, Technik. Sein Erkenntnisgewinn: nahe null. Das liegt aber nicht an den vorgestellten Blogs. Es liegt an der Auswahl, bei der offensichtlich das Bauchgefühl der Kopfvernunft auf den Rücken haute und sagte: Komm, Spatz, jetzt suchen wir uns mal fünf Beispiele, die zeigen, dass mit Bloggen in Deutschland kein Business zu machen ist. Denn der Ausgangspunkt der Recherche war ein Chart von 2013, nach dem die Mehrheit von mehr als 2000 Bloggern unter 300 Euro im Monat bleibt. Gefolgt vom obligatorischen Hinweis, dass in Amerika alles ganz anders aussieht. Dass die Deutschen zu doof sind, um im und mit dem Netz Geld zu verdienen: Es ist ein Klischee, das sich so hartnäckig hält wie die These, Homer Simpson sei eine Comicfigur (dabei ist er, siehe oben, eine Gottheit).
Offensichtlich liegt Münster in Amerika. Denn von dort kommt ein Blog, mit dem sich illustrieren lässt, wie das geht mit dem Geldverdienen im Netz: odernichtoderdoch.de. Der steht natürlich nicht im SZ-Artikel. Genau genommen ist das Blog das Zentralgestirn ein kleines Netzuniversums. In ihrem Blog erzählt die 25-jährige Joana Gröblinghoff von ihrem Leben: das erste Mal beim Frauenarzt, Fashiontipps in Pastell, woher ihr Hang zur Fotografie kommt. Die Posts funktionieren wie viele Geschichten in NEON: notorisch selbstreferentiell, aber so formuliert, dass sich jeder Leser, in Joanas Fall jede Leserin darin wiederfindet und das eigene Leben mit dem von Joana abgleichen kann. Es steht deshalb auch nicht mehr „Blog“ in der Unterzeile, sondern „Dein persönliches Online-Magazin“.
Darum kreisen viele kleine Planeten: ein Instagram-Kanal, eine Ask.fm-Seite, ein Twitter-Stream. Um dieses Universum am Leben zu halten, arbeiten für Joana inzwischen sieben Angestellte und drei Freiberufler. Gemeinsam mit ihrem Freund Niklas Heinen hat Joana im Kleinen geschafft, was zum Beispiel Frank Zimmer, der Redaktionsleiter von w&v Online, im Großen als einzig mögliche Überlebensstrategie von Verlagen im Großen prognostiziert. Auf die Frage, wie Medien künftig Geld verdienen werden, antwortet er im OSK-Blog:
„Vor allem mit Werbung, aber hoffentlich mit besserer und kreativerer als heute im Netz üblich. Paid Content wird nicht reichen. Nebengeschäfte von Medien und Verlagen werden zunehmend wichtiger. Das können eigene Veranstaltungsangebote wie Awards, Messen, Konferenzen oder Seminare sein – wie sie schon jetzt im Fachinformationsbereich vielfach üblich sind. Magazine werden künftig weitere Geschäftsfelder für sich entdecken, die zu ihren publizistischen Inhalten passen.“
Genau das passiert in Münster: Die Lichtpoetin bietet Kurse an, bei denen sie zeigt, wie sie ihre verträumten Märchenaufnahmen schießt – Teilnehmerinnen kommen dafür bis aus Österreich. Nach Münster. Beziehungsweise Amerika. Mit Unternehmen vereinbart sie Kooperationen, die zu ihr passen. Im Online-Shop verkauft sie Jutebeutel und Schreibtischunterlagen in der Corporate Identity der Marke, die sie aus sich selbst gemacht hat. Und inzwischen gibt es mit 100TausendLux einen Ableger, mit dem sie und Niklas Heinen Unternehmen beraten, wie man im Netz auf Augenhöhe mit der eigenen Zielgruppe kommuniziert. Im Netz kann man in Deutschland kein Geld verdienen? Aber sicher, man muss nur wissen wie. Die entscheidende Frage lautet nicht: Ist mit Bloggen Business möglich? Sondern: Wie lässt sich um ein Blog ein Business entwerfen? Wer darauf schlüssige Antworten findet, landet irgendwann dort, wo Joana heute steht.
Man könnte, wenn es um erfolgreiche Geschäftsmodelle von Bloggern (und Youtubern) geht, vieles erwidern. Zum Beispiel, wo Kooperationen enden und Schleichwerbung beginnt. Oder ob ein einzelnes Beispiel genügt, um die These der SZ zu widerlegen. Die eine Frage wird das gesamte Ökosystem des Netzes noch lange beschäftigen. Die andere führt zu Bloggerinnen wie Anna Frost, die als Fashionpuppe in Hamburg etwas Ähnliches geschafft und geschaffen hat.
In diesen Tagen ist es nahezu unmöglich, an den Geschichten vorbeizuschauen, die zum zehnjährigen Geburtstag von Youtube erschienen sind. Und natürlich kommt keine aus ohne die astronomischen Summen, die LeFloid oder Daaruum inzwischen verdienen. Man könnte diese Geschichte auch anders herum erzählen und mal ein paar von denen besuchen, die seit Jahren vergeblich versuchen, auf die Flughöhe der großen Stars zu kommen. Diese Erzählung würde das Bauchgefühl aber niemals durchgehen lassen.
Lernen von den Jungen (2): Wie ein Blog aus Münster Geld verdient
18. Februar 2015
Wundervoller Text und die passende Antwort auf das SZ Geschwurbel. Allerdings verstehe ich nicht, warum die quirlige Bloggerin das Core-Biz verlässt und nun beratend tätig ist, wo doch das eigentliche Geschäft so gut läuft? Diversifikation?
Anton Pree, 19. Februar 2015Hallo lieber Anton, deine Frage wäre berechtigt – aber ich habe das „Blogger-Biz“ nie verlassen und einfach nur meinen Tätigkeitsbereich ausgeweitet. Um das weiterhin alles unter einen Hut zu bekommen sind wir mittlerweile drei Autoren, die für den Blog schreiben. Liebe Grüße aus Münster (Amerika) Joana
Joana // odernichtoderdoch, 20. Februar 2015